Meine Lieblingspassage in Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga handelt davon, was Zeit mit Sprache macht.

Die Ich-Erzählerin der Saga ist Lenú. Sie schreibt über ihre Lebensfreundin Lila, die gemeinsame Nachkriegs-Kindheit in den Armenvierteln Neapels und ihren Aufstieg als Schriftstellerin. In den Siebzigerjahren wird sie als literarische Stimme der italienischen Frauenbewegung bekannt.

Wahrheiten

An einem Weihnachtsfest, Lenú ist mittlerweile über 80 und hat das Schreiben aufgegeben, versammelt sich die Familie in ihrer Wohnung. Aus einer Laune heraus greift eine ihrer beiden Töchter zu den Werken der Mutter, die mittlerweile mehrere Jahrzehnte alt sind. Sie beginnt, daraus vorzulesen, spöttisch und provokant.

„Ihre Stimme betonte wirkungsvoll Fehler, Übertreibungen, zu laute Töne und die Bejahrtheit von Ideologien, die ich als unbestreitbare Wahrheit vertreten hatte. Amüsiert verweilte sie vor allem bei meinem Wortschatz, wiederholte zwei oder drei Mal Begriffe, die seit langem aus der Mode waren und albern klangen.“

Fremdheit

Lenú kommen ihre eigenen Worte seltsam vor und fremd. Sie verteidigt sich:

„Diese Bücher waren aus der Atmosphäre heraus entstanden, in der ich gelebt hatte, aus dem, was mich angeregt hatte, aus den Ideen, die mich beeinflusst hatten. Ich war meiner Zeit Schritt für Schritt gefolgt, hatte Geschichten erfunden, mir Gedanken gemacht.“

Gegenwartssprache und Quellensprache

Lenú hat eine unausweichliche Entwicklung durchlebt: Aus Gegenwartssprache ist Quellensprache geworden. Begriffe und ihre Bedeutungen verändern sich mit der Zeit, im Laufe eines Lebens.

Aber wo genau ist der Trennstrich zwischen beiden Sprachen eigentlich zu ziehen, und welche Probleme ergeben sich daraus für Sachbücher und wissenschaftliche Arbeiten? Dazu beim nächsten Mal mehr.

Elena Ferrante, Die Geschichte des verlorenen Kindes, Band 4 der Neapolitanischen Saga, Frankfurt am Main 2018.



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Gegenwartssprache – Quellensprache – Analysesprache