Kritik von innen
Viele Autorinnen und Autoren schreiben niemals allein. Sie sind vielleicht allein im Raum oder am Schreibtisch – aber gleichzeitig quatschen an ihren Texten unzählige Stimmen mit. Die haben sich im Kopf festgesetzt, nörgeln und maulen: über die Wortwahl, die These, die Struktur, den Stil, jeden einzelnen Gedanken. Einfach alles.
Diese Stimmen gehören zu den inneren Kritikerinnen und Kritikern. Während informierte und anregende Kritik von außen am veröffentlichten Text für die Kommunikation über Wissen wichtig ist, ist Kritik von innen beim Schreiben selbst die Hölle.
Innere Kritik bewirkt Versagensängste. Sie stört den kreativen Prozess und bewirkt, dass wir uns quälen oder gar nicht erst mit dem Schreiben anfangen. Haben wir es doch angepackt, fühlen wir uns anschließend erschöpft und erschlagen. Vollkommen egal, ob wir an einem Sachbuch, Roman, einem Gedicht oder einer Dissertation sitzen.
Stimmen aus der eigenen Biografie
Die innere Kritik, mit der wir uns selbst sabotieren, hat viel mit unserer Biografie zu tun. Etwa mit unseren früheren sozialen Beziehungserfahrungen, wie die Schreibtrainerin Ulrike Scheuermann erklärt. Sie können sich also fragen: Gab es in meiner (Schreib-)Biografie Situationen, in denen ich übermäßig kritisiert wurde? Wie habe ich überhaupt Schreiben gelernt – immer in Bewertungs- und Notenkontexten?
Schreibhemmungen sind die Folge solcher Vorgeschichten. Sie sind nicht nur biografisch, sondern auch linguistisch begründet. Wenn wir schreiben, erhalten wir keine unmittelbaren Antworten und Reaktionen. Produktion und Rezeption finden zeitversetzt statt. Der Linguist Konrad Ehlich nennt dies eine „zerdehnte Sprechsituation“.
Gigantische Erwartungen
Wir sind beim Schreiben unsicher, ob unsere Botschaften ankommen. Obwohl wir niemanden vor uns haben, kommunizieren wir, und zwar im Kopfkino: Wir stellen uns Leserinnen und Leser vor sowie deren Erwartungen, die in unserer Fantasie gigantisch und unerfüllbar werden.
Was können wir dagegen tun?
Geschützte Räume schaffen für Erstfassungen
Wir brauchen beim Schreiben wenigstens der rohesten Texte einen geschützten Raum, in dem unsere Ideen und Gedanken ohne Schranken und Selbstzensur aufs Papier dürfen.
Das geht mit Freewriting.
Freewriting ist die Allzweckwaffe der Schreibdidaktik gegen Schreibhemmungen. Dabei geht es darum, in kurzen Zeiträumen schnell und assoziativ zu schreiben. Das Freewriting ist nicht für fremde Augen bestimmt. Es ist nur für uns. Niemand wird es lesen. Das entlastet uns von der Vorstellung, gleich etwas Druckreifes produzieren zu müssen.
Freewriting ist eine vielseitige und kreative Methode, Gedanken aus uns rauszukitzeln und zu schauen, was alles in uns steckt, von dem wir vorher vielleicht nichts wussten. Und die innere Kritik dabei auszuschalten.
„It is like writing something and putting it in a bottle in the sea“, erklärt der Professor und Schreiblehrer Peter Elbow, der das Freewriting in Büchern wie „Writing without Teachers“ in den 1970er Jahren populär gemacht.
Eine kleine Anleitung, um ins Freewriting einzusteigen:
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Stellen Sie für einen kurzen Zeitraum einen Timer, zehn Minuten, und schreiben Sie drauflos: entweder vollkommen frei oder mit einem vorher festgelegten Thema im Kopf. Der innere Kritiker bleibt draußen, für den haben Sie keine Zeit, da Sie nicht innehalten dürfen.
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Um Form, Struktur, Rechtschreibung, Sprache und Textkonventionen kümmern Sie sich später. Es muss erst mal alles raus, egal wie.
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Fällt Ihnen mitten im Satz was anderes ein, was erst einmal nichts mit dem, was Sie vorher geschrieben haben, zu tun hat, aber interessanter scheint: Schreiben Sie den neuen Gedanken auf.
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Ihnen fällt was ein, was irgendwie aus den Regeln und Sagbarkeiten Ihres Fachgebiets ausbricht, aber vielleicht den Keim eines interessanten Gedankens enthält, aus dem man was machen kann? Schreiben Sie es auf.
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Ihr innerer Kritiker meldet sich doch und sagt was Fieses? Dann schreiben Sie auf, was er sagt. Und was Sie drüber denken.
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Löschen Sie nichts, redigieren Sie nichts und verbessern Sie keine Fehler. Alles darf stehenbleiben.
Freewriting kann nicht nur ein guter thematischer Einstieg sein, sondern auch der Beginn eines neuen Rituals: Über das eigene Schreiben reflektieren, statt sich von Quälgeistern und Problemen jagen zu lassen.
Nächste Woche im Blog gibt es zum Freewriting noch ein paar weiterführende Methoden und Ideen – auch dazu, wie wir das Freewriting für den weiteren Schreibprozess auswerten können.
Literatur:
Konrad Ehlich, Zur Genese von Textformen. Prolegomena zu einer pragmatischen Texttypologie, in: Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick, hg. v. Gerd Antos und Hans P. Krings, Tübingen 1989, S. 84–99.
Peter Elbow, Writing without Teachers, Erstausgabe New York 1973.
Ulrike Scheuermann, Schreibdenken. Schreiben als Denk- und Lernwerkzeug nutzen und vermitteln, 3. Auflage, Opladen u. a. 2016.